Leahs Gedanken

Lass uns ein Stück gemeinsam gehen

Warum es kein biologisches Geschlecht gibt

Über wenige Themen wird in den letzten Jahren so fundamental gestritten wie über Geschlecht und dessen Definition. Das ist insofern interessant, als für die meisten Menschen Geschlecht etwas ist, mit dem sie sich in diesem Detailgrad sehr wenig beschäftigen müssen. Das Geschlecht, das sie haben, ist, wie es ist, es gibt Mann und Frau und niemand stellt das so recht infrage. Die anderen Kontaktpunkte sind Diskriminierung und Erwartungen durch Rollenbilder und patriarchale Strukturen und die treffen, auf die eine oder andere Weise, alle Menschen, egal ob und welches Geschlecht sie haben.

Vielleicht ist es gerade diese Begebenheit, die dazu führt, dass Menschen sich plötzlich verunsichert fühlen, wenn es in diesem scheinbar so einfachen und eindeutigen Bereich zu offenen Fragen und Diversität kommt. Für die Meisten von uns gibt es von klein auf nur die Kategorien Mann und Frau, in die alles reinpasst, passen muss. Diese haben dann substanzielle Auswirkungen auf unser Leben, besonders wenn wir uns nicht klar an die gesellschaftlichen Erwartungen halten.

Lass uns daher ein Stück gemeinsam gehen und den Begriff Geschlecht genauer erkunden.

Was ist Geschlecht eigentlich?

Geschlecht ist eine Kategorie, darauf sollten wir uns alle an dieser Stelle einigen können. Aber wo kommt die Kategorie eigentlich her? Wenn wir uns nicht an den Kreationisten orientieren und davon ausgehen, dass sie durch eine göttliche Schöpfung einfach da war, muss sie irgendwo herkommen bzw. irgendwie entstanden sein. Wer jetzt die Hand hebt und sagt: „Das war die Biologie, die Evolution!“ der liegt nicht ganz falsch, aber definitiv auch nicht richtig.

Als das Leben auf der Erde begann, bestand es vornehmlich aus Einzellern. Diese haben kein Geschlecht und vermehren sich ungeschlechtlich via Zellteilung. Hier gibt es also schon mal kein Geschlecht zu finden, falsche Adresse. Gehen wir weiter und sehen uns komplexere Lebensformen an. Hier braucht es häufig zwei Individuen für eine Fortpflanzung. Aber warum eigentlich?

Würden wir uns selbst gewissermaßen via Zellteilung vermehren, wären wir alle Klone unserer Eltern und Großeltern bis in alle Ewigkeit. Diese Klone wären dabei ausgesprochen anfällig für Krankheiten und andere Feinde, da sich ihr Erbgut und ihre Biologie so nahezu vollständig gleichen würden. Passt es für einen, passt es für alle. Zusätzlich ist bei dieser Art der Fortpflanzung die Rate an Mutationen relativ gering, sodass sich eine Art, die sich auf diese Weise vermehrt, kaum oder nur sehr langsam evolutionär weiterentwickelt.

Daher hat die Evolution entschieden, dass es für die Weiterentwicklung komplexeren Lebens wichtig ist, die genetischen Informationen zu mischen, um eine vielfältige Population zu schaffen. Die bleibt nicht nur gesünder, weil sie weniger anfällig ist, sie sorgt auch für eine höhere Vielfalt an Nachkommen, sodass eine natürliche Selektion einsetzen und sich die Spezies weiterentwickeln kann.

Klingt das schon nach Geschlecht? Nicht so ganz, aber ein wenig vielleicht, denn die Natur musste sicherstellen, dass es mindestens zwei Individuen benötigt, um sich fortzupflanzen. Daher haben sich unterschiedliche Arten von Keimzellen entwickelt, die für die Fortpflanzung benötigt werden. Allerdings ist der Natur die Kategorie Geschlecht dabei völlig egal.

So hat der Regenwurm etwa beide Keimzellen, pflanzt sich aber doch meist mit einem weiteren Individuum fort. Der Clownfisch wechselt dafür, im Laufe seines Lebens, seine Keimzellen. Bei vielen weiteren Spezies sind die Keimzellen hingegen weitestgehend fest aufgeteilt.

Warum sich die Ausprägungen eine Spezies, je nach Keimzelle doch zum Teil erheblich unterscheiden, sprengt den Rahmen dieses Textes bei Weitem und ist zum Teil auch noch ungeklärt. Letztlich geht es aber darum, den optimalen Weg zu einer möglichst sicheren Fortpflanzung zu finden und bestimmte Bedingungen zu erfüllen, die von den Keimzellen benötigt werden. Beim Menschen schließt das zum Beispiel auch körperliche Anpassungen ein, die für eine innere Befruchtung benötigt werden.

Auch hier gibt es also noch kein Geschlecht im Sinne der von uns häufig verwendeten Definition von Mann und Frau, sondern nur Individuen mit unterschiedlichen Anlagen, die benötigt werden, um sich fortzupflanzen.

Woher kommt also die Kategorie Geschlecht? Diese Kategorie haben wir Menschen uns ausgedacht, um darauf basierend gesellschaftliche Zuschreibungen treffen zu können. Unter anderem, aber nicht ausschließlich, um den unterschiedlichen Rollen bei der Fortpflanzung gerecht zu werden. Das zeigt sich auch darin, dass die Komplexität von Geschlecht, wie vorangegangen beschrieben, den Menschen erst viel später durch Wissenschaft und Forschung bewusst wurde. Ohne das heutige Wissen und die entsprechenden Worte (denn Worte definieren unsere Welt und was es in dieser gibt und nicht gibt) haben die Menschen die Kategorisierung auf Basis der äußeren Merkmale und der Rolle bei der Fortpflanzung der Menschen getroffen. Aus den daraus entstandenen Kategorien haben sich bestimmte Rollenbilder entwickelt. Diese wurden über die Jahrhunderte zu einem harten Konstrukt, in dem sich Machtstrukturen, Stereotype und damit auch das Patriarchat gebildet haben. Es ist also kein Wunder, dass ein bestimmtes Bild und bestimmte Kategorien von Geschlecht in unseren Köpfen und der Gesellschaft tief verankert sind, auch wenn sie keinen biologischen Ursprung haben.

Sex und Gender

Seit der Erfindung der Kategorie Geschlecht ist unsere Gesellschaft enorm gewachsen und hat sich wissenschaftlich sowie gesellschaftlich stark weiter entwickelt. So haben wir erkannt, auch wenn das Patriarchat es noch immer schwierig macht, dass Menschen nicht aufgrund ihres Geschlechts unterschiedlich viel wert, sondern gleichberechtigt und gleichwertig sind. Im Zuge dessen hat sich auch die Kategorie Geschlecht, mit ihrer durch den Menschen festgelegten Definition, weiterentwickelt. Die Menschen haben sich mehr individualisiert und festgestellt, dass es außerhalb der historischen, stereotypen Rollenbilder viel zu entdecken gibt, dass für die einzelnen Individuen mehr ihrer Persönlichkeit entspricht.

Da das Weiterentwickeln von Rollenbildern und Stereotypen jedoch ein langsamer Prozess ist, verbinden wir mit den Unterkategorien von Geschlecht noch immer bestimmte Merkmale, die aus der historischen Definition in die Gegenwart wirken. So auch die Zuweisung einer Unterkategorie von Geschlecht bei der Geburt aufgrund äußerer Geschlechtsmerkmale.

Neben diesem Prozess haben auch immer mehr Menschen, durch den Wegfall von Sanktionen für nicht konformes Verhalten, festgestellt, dass die ihnen zugeschriebene Unterkategorie für sie nicht passt. Manche dehnen dabei die Definition „ihrer“ Unterkategorie, für andere passt diese gar nicht. Letztere sind die Menschen, die wir heute oft als trans, im Gegensatz zu cis, beschreiben. Diese beiden Begriffe, cis und trans, definieren dabei ausschließlich das Verhältnis zur bei der Geburt zugeschriebenen Unterkategorie (cis = passt, trans = passt nicht).

Genauso wissen wir heute aber auch, dass es in der Komplexität der menschlichen Entwicklung keine Eindeutigkeit der Körper gibt. Es gibt zwar Häufungen darin, wie Körper sichtbar oder unsichtbar im Inneren aufgebaut sind, aber eben keine Eindeutigkeit. Lässt sich ein Mensch körperlich nicht eindeutig einer dieser Häufung zuweisen, nennen wir sie meist inter(geschlechtlich).

Durch diese Entwicklungen und Erkenntnisse verschiebt sich Geschlecht als äußere gesellschaftliche Zuschreibung mit zwei festen Unterkategorien weiter, hin zu einem komplexeren und individuelleren Bild, dass sich dafür mehr an der tatsächlichen Realität der Menschen orientiert. Geschlecht wird so zu einer Kategorie, die nicht von außen zugeschrieben wird, sondern sich am individuellen Wissen der Person orientiert.

Während es in der deutschen Sprache nur das Wort Geschlecht gibt, haben sich im englischsprachigen Raum die Begriffe „Sex“ und „Gender“ etabliert, um die körperliche und damit historisch externe Kategorisierung von der zu trennen, die Menschen aufgrund ihres Empfindens sich selbst gegenüber vornehmen. Dieser Schritt ist wichtig, um der Entwicklung der Definition von Geschlecht als Kategorie nachzukommen und erst das Sprechen darüber möglich zu machen. Denn um auszudrücken, dass die externe Zuschreibung nicht zu mir passt, ist es hilfreich diese vom realen Geschlecht, auch konzeptionell, zu trennen. Konkret bedeutet es, dass es diese sprachliche Trennung benötigt, um zu erklären, dass die externe stereotype Zuschreibung aufgrund des Körpers nicht für alle Menschen passt. Sie ist somit ein Mittel zum Zweck, aber nur ein Teil des tatsächlichen Weges.

Neben „Sex“ und „Gender“ haben sich im Deutschen wie auch im Englischen für diese Unterscheidung häufig zudem die Begriffe „biologisches Geschlecht“ (Sex) und „empfundenes Geschlecht“ (Gender) etabliert. Genau diese Unterscheidung in vermeintlich „biologisch“ und „empfunden“ stellt allerdings ein großes Problem dar, dass nicht nur zu Diskriminierung führen kann, sondern auch ein falsches Bild der Tatsachen zeichnet. Denn auch wenn „biologisch“ wie eine naturgegebene Kategorisierung klingt, ist es am Ende nur die historische, auf körperlichen Merkmalen basierende Einordnung. Gleichsam nehmen diese Begriffe eine fundamentale Wertung zuungunsten des Individuums vorweg.

Wenn ich nun also die Trennung von Geschlecht in „Sex“ und „Gender“ vornehme, weiß ich, dass es darum geht zu erklären, dass bestimmte körperliche Merkmale nicht das Geschlecht einer Person bestimmen und es dabei auch viele vom bekannten Stereotyp abweichende Ausprägungen gibt. Die Begriffe des „biologischen“ oder „empfundenen“ Geschlecht streiche ich bei dieser Gelegenheit am besten gleich aus meinem Wortschatz.

Mit dieser Erkenntnis ausgestattet, wissen wir jetzt, dass Geschlecht eine von Menschen entwickelte Kategorie respektive Zuschreibung ist, diese dabei aber nicht (mehr) von bestimmten körperlichen Merkmalen definiert ist. Damit kommen wir zurück zur eingangs schon mal thematisierten Biologie und auch warum „biologisches Geschlecht“, genau wie eine darauf basierende fixe und nicht nur als Gedankenmodell verwendete Unterscheidung in „Sex“ und „Gender“ nur als Zwischenschritt betrachtet werden können.

Wenn Geschlecht nun, aufgrund der gesellschaftlichen Entwickelung, sowie der Forschung und Wissenschaft nicht mehr basierend auf körperlichen Merkmalen definiert werden kann und sollte, gelangen wir in diesem Schritt zu der Erkenntnis, dass die körperlichen Merkmale einer Person nicht dazu geeignet sind, die gesellschaftliche Kategorie Geschlecht zu definieren und selbst kein Geschlecht haben. Sie sind einfach nur bestimmte körperliche Merkmale, die zu allen Unterkategorien von Geschlecht und auch Personen ohne Geschlecht gehören können. Es gibt höchstens statistische Häufungen, die unsere alten Stereotype bilden.

Damit ist der Begriff von „Sex“ den wir für den Körper Stereotyp verwendet haben, hinfällig, genau wie ein vermeintliches „biologisches“ Geschlecht. Daraus abgeleitet macht dann auch die Unterscheidung in „Sex und Gender“ oder „biologisches und gefühltes Geschlecht“, abseits der Beschreibung theoretischer und historischer Zusammenhänge, keinen Sinn.

Zusammengefasst: Es gibt Menschen und die können ein Geschlecht haben. Diese Personen haben in der Regel Körper mit bestimmten Merkmalen, diese Merkmale sind völlig unabhängig vom Geschlecht der Person und können immer als solche benannt werden ohne auf ein vermeintliches Stereotype basiertes biologisches Geschlecht zu reduzieren.

Schlussendlich ist Geschlecht also eine soziale Kategorie, die sich zusammen mit der Gesellschaft, die sie geschaffen hat, weiterentwickelt, um bestimmte Aspekte zu kategorisieren und damit zu vereinfachen. Darüber hinaus existiert Geschlecht nicht.

Aber es gibt doch trotzdem nur zwei Geschlechter?

Nein!

Aber die Fortpflanzung?

Bevor ihr jetzt fragt: „Aber Leah, wie ist das mit der Fortpflanzung?“, auch darauf habe ich eine einfache Antwort. Für die Fortpflanzung braucht es bestimmte körperliche Merkmale, ja, aber die sind, wie wir im vorangegangenen Text gelernt haben, unabhängig vom Geschlecht. Daher funktioniert Fortpflanzung unabhängig vom Geschlecht einer Person wunderbar, solange die Personen kompatible körperliche Merkmale haben. Kein Grund also, diesen Merkmalen ein „Geschlecht“ zu geben.