Die Grenze der anderen. Über Konsens im Internet
Ab und an, viel seltener als früher, poste ich mal ein Selfie von mir auf meinem Main Account auf Mastodon. Ein Selfie heißt ein Bild, auf dem ich quasi das Hauptwerk bin und nicht etwas, das ich tue oder der Ort, an dem ich bin. Mein Account ist groß, mit fast 9000 Folgenden auf Mastodon, aber das ändert nichts an den hier thematisierten Punkten, denn egal wie groß die Reichweite ist, das sollte nie die eigenen Grenzen für andere auflösen.
Aber zurück zum Anfang. Die Tage war ich bei meiner Frisörin und habe mir eine neue Frisur schneiden lassen. Weil ich sie sehr mag, hab ich mein Profilbild entsprechend geändert und das Selfie dazu auch gepostet. Öffentlich, weil ich es okay finde, dass es auf dem Profil auftaucht und auch, dass es Menschen sehen, die mir nicht folgen. Auch diesmal ist es mir wieder passiert, dass zwei Menschen das Bild geboostet haben. Zum Teil aus echt nachvollziehbaren Gründen, aber trotzdem fühlt sich das für mich immer nicht sonderlich gut an. Besonders wenn es Männer sind oder geschlossene Accounts.
Woran das liegt? Es gibt im Internet mehr als genug Gruppen und Accounts die sich darauf spezialisiert haben, die Bilder von meist jungen, attraktiven Frauen zu sammeln und ihrer Folgschaft aggregiert zur Verfügung zu stellen. Wozu? Na als Wichsvorlage, zur Belästigung oder aus sonstigen widerwärtigen Gründen. Natürlich möchte ich niemandem diese Absicht unterstellen, aber trotzdem taucht bei mir immer sofort die Frage auf „Warum ist diese Person jetzt der Meinung dieses Bild anderen Menschen zeigen zu müssen?“.
Versteht mich nicht falsch, es gibt mehr als genug valide Gründe. Ich habe mir auch Bilder aus dem Internet rausgesucht und meiner Frisörin gesagt „Hier schau mal, so ungefähr hätte ich das auch gerne geschnitten“. Aber das ist dann doch etwas anderes als die Dynamik eines Sozialen Netzwerks.
Normal sage ich den Personen dann einfach Bescheid, je nachdem kommt dann Verständnis oder ein blöder Kommentar. Weil ich jetzt aber wissen wollte, ob es nur mir so geht, dass das Teilen eines Selfies als unangenehm empfunden wird, oder auch anderen, habe ich eine kleine Umfrage auf Mastodon gestartet, bei der mir ca. 200 Menschen geantwortet haben. Die Frage war dabei vornehmlich an weiblich wahrgenommene Menschen gerichtet, da deren Erfahrungen mit meiner wohl am ehesten vergleichbar sind und wir eben auch grundsätzlich öfter übergriffiges Verhalten erleben. Im Ergebnis fand mehr als die Hälfte der Stichprobe das Teilen von Selfies auch unangenehm, ein weiteres Drittel hatte nichts dagegen und nur etwa 10% freuen sich darüber. Das heißt, ca. 90% brauchen das nicht wirklich. Dazu kommen noch all jene, die mir geschrieben haben, sie posten genau deshalb gar keine Bilder oder nur als Follower-Only (womit sie auf Mastodon nicht teilbar sind). Das ist schon erheblich und spiegelt zum Glück auch meinen erfreulichen Eindruck wider, dass Selfies auf Mastodon eher selten geteilt werden.
Social Media wäre aber nicht Social Media, wenn ich nicht auch jede Menge unangenehme Kommentare unter dieser Umfrage gesehen hätte. Zusammenfassen lassen sich alle als „Wenn es dich stört, was mit deinen Bildern passiert, dann poste sie halt nicht öffentlich!“. In anderen Worten, wenn du ein Bild von dir postest, bist du Freiwild und gibst sämtliche Grenzen von dir auf. Dass diese Einstellung keine Seltenheit ist, sehen wir auch an den ganzen AI Bros, die es so rechtfertigen, wahllos wie große Staubsauger sämtliche Inhalte im Internet ungefragt in ihre Produkte zu schaufeln ohne Rücksicht auf irgendwelche Grenzen. Oder um es mal aus dem Internet in die physische Realität zu übertragen: „Hättest dich halt nicht so sexy anziehen sollen!“. Nein, ich vergleiche jetzt sexuelle Belästigung nicht mit dem Teilen eines Bildes, aber es folgt dem gleichen Gedankengang. DU sollst plötzlich schuld daran sein, dass jemand anderes deine Grenzen überschreitet. Und um das an dieser Stelle ein für alle Mal klar zu sagen: NEIN, es ist einzig und allein die Person verantwortlich, die die Grenze überschreitet.
Und damit sind wir beim Kern dieses Artikels, bei dem ich jetzt schon froh bin, ihn nicht in einen Thread gekippt zu haben. Beim Konsens. Denn wir haben nicht nur in der physischen Welt ein massives Problem mit Konsens, sondern ein mindestens ebenso großes im Internet. Es scheint viel zu häufig, nicht nur bei Selfies, sondern zum Beispiel auch bei Künstler*innen der Fall zu sein, dass, sobald man seine Inhalte im Internet teilt, man jedes Recht daran und an einem empathisch und respektvollen Umgang verwirkt hat. Und der Thread war nicht nur dahin gehend ein perfektes Beispiel, genau so war dort ein Dude der unbedingt seine Punkte mit mir diskutieren wollte. Und nachdem er nicht aufgehört hat, habe ich ihn geblockt. Keine 5 Minuten später schrieb er mich von einem anderen Account an. Konsens sieht anders aus.
Ja ich bin dieses Verhalten gewohnt, das ist das zweifelhafte Vergnügen bei einem großen Account. Besser macht es das aber nicht. Es ermüdet und führt dazu, dass ich inzwischen vieles auf einem kleinen privaten Account poste, einfach weil ich keine Lust auf nervige und unerwünschte Kommentare und schlechtes Verhalten habe.
Dabei wäre es so einfach, übrigens nicht nur im Falle eines Selfies, eigentlich in den meisten Fällen: Fragt einfach vorher. Fragt, was okay ist und respektiert damit euer Gegenüber.